Kommt der “Erste Gewächs”?

Für viele Gäste an der Bar ist, neben trocken oder halbtrocken, die Bezeichnung “Prädikat” die wichtigste Information auf der Karte. Theoretisch belohnt diese Angabe die Winzer, die ihre Erträge zügeln und das Risiko einer späten Ernte eingehen. Es gibt jedoch weder für Rebsorten noch für die Einzellagen, die mindestens gleichwertig betrachtet werden müssen, vergleichbare Einstufungen.

Auf diese Weise ist es möglich, eine ertragsstarke, frühreifende Rebe wie zum Beispiel die Müller-Thurgau – von den unaussprechbaren Neuzüchtungen ganz zu schweigen - auf einer weniger guten Lage anzubauen und beinahe jedes Jahr eine Auslese zu erzeugen. Dabei kommt es dem Gesetzgeber nicht darauf an, ob der Wein über Geschmack, Stil oder Charakter verfügt. Demgegenüber kann ein sorgfältig arbeitender Winzer, der Riesling an den Steillagen der Mosel pflegt, im Schnitt lediglich alle drei Jahre eine kleine Menge von Auslesen ernten, ausbauen und vermarkten.

Nur wenige teilen der Auffassung, daß die beiden Weine verglichen werden können. Es ist bisher jedoch immer schwierig gewesen, einen Weg zu finden, die bessere der beiden Auslesen amtlich hervorzuheben. Fast jeder stimmt überein, daß Rebsorten, Erträge und Bodenbeschaffenheit wichtige Faktoren sind, wenn es darum geht, die Qualität festzulegen. Die Debatte über die Möglichkeiten einer Lagenklassifikation - bei denen die besten Lagen wie in Burgund und Elsaß in “Grand Cru” eingeteilt würden - hat heftige Kontroversen ausgelöst. Die Fronten härten sich.

Die Anwendung der Bezeichnung “Großlage” macht einen Teil des Zündstoffs der Debatte aus. Irreführend ist, daß jeder Wein vom Rheingau als “Johannisberg” verkauft werden kann. Schwer gelitten hat insbesondere Nierstein unter dem gedankenlosen Einsatz der “Großlage” Gutes Domtal, welches den führenden, dort ansässigen Weingütern es fast unmöglich machte, ihre eindrucksvollen Einzellagen in den Vordergrund zu stellen. Gewiß benötigen alle Betriebe ein Vermarktungsinstrument, welches ihnen erlaubt, ein Markenbewußtsein für ihre Weine zu schaffen. Eine einfache Beschreibung wie Rheingauer Riesling ist auf internationaler Ebene durchaus sinnvoll. Dem konservativen deutschen Bargast ist jedoch der Hinweis auf das Dorf und die Lage wichtig, auch wenn diese absolut nicht aussagekräftig sind. Ein Himmlisches Kanonenrohr Bacchus Spätlese halbtrocken, soll er dann aber bekommen.

Einige Weingüter verkaufen das Gros ihrer Weine lediglich mit dem Namen der Rebsorte und der Region, die besseren ebenfalls mit dem Namen des Dorfes, ihre feinsten Gewächse mit der Einzellage. So wurden früher alle Weine in Deutschland vermarktet. Selbst heute verbietet kein Gesetz dem Erzeuger seine Weine auf diese Weise zu verkaufen, es schreibt den benachbarten Winzern jedoch auch nicht vor, gleiche Maßstäbe anzusetzen. Doch es verbietet dem qualitätsbewußten Erzeuger seine besten Lagen als “Grand Cru” oder eben “Erstes Gewächs” anzupreisen.

Die Debatte, wer denn eigentlich festlegen soll, welche Lage zu einer “Grand Cru” erklärt wird, birgt die Gefahren eines politischen Minenfelds. Die meisten Ansätze bleiben leider schon in den Kinderschuhen stecken und geben sich mehr oder minder mit einem Klassifikationssystem zufrieden, welches die Behörden im letzten Jahrhundert zugrunde legten, um die besten Einzellagen mit höheren Steuersätzen zu prügeln: ein Qualitätsbewußtsein besonderer Art. Bis heute haben es lediglich einige Weingüter an der Nahe als einzige Erzeuger geschafft, ein System einzuführen, welches dem Grundgedanken einer gültigen Klassifikation am ehesten nachkommt. Die Erzeuger haben auf die Bezeichnung “Großlage” verzichtet und sich darauf geeinigt, nur Rieslinge mit den Namen der besten Einzellagen zu versehen, die streng begrenzt in ihren Erträgen sind, höhere Reifegrade auf dem jeweiligen Qualtitätsniveau erfüllen und eine Genehmigungsverkostung unterliegen müssen.

Dies ist zumindest ein erster pragmatischer Versuch, einen gemeinsamen Nenner in der heftig geführten politischen Diskussion um die Klassifikation zu finden. Deren Lösung ist zwar noch weit vom langfristigen Ziel entfernt, doch sie schreiten in eine löbliche Richtung.

Die Debatte nahm ihren Ausgangspunkt im Rheingau, wo eine kleine Gruppe von Erzeugern mit Hilfe der regionalen Behörden und der Fachhochschule Geisenheim eine Karte mit den besten Parzellen der Region erarbeiteten. Obwohl die meisten übereinstimmen, daß diese Klassifikation insgesamt zutrifft, schlugen die Wellen der Kritik in dem Moment, in dem die Karte veröffentlicht wurde, haushoch. Jeder Erzeuger, dessen Weinberg nicht als “Grand Cru” ausgewiesen wurde, schloß sich umgehend der lynchenden Meute an; und da lediglich etwa zwanzig Prozent der Flächen zum “heiligen Boden” gekürt waren, fielen die übrigen in Ungnade. Es liegt nun einmal in der Natur der Qualität elitär zu handeln. Ohne eine mehrheitliche Zustimmung war diesem Konzept jedoch schon in den Anfängen kein politischer Erfolg beschieden.

Einige Winzer im Rheingau arbeiten darüber hinaus auch an einer Verbesserung des Geschmacksprofils ihre “Ersten Gewäche”, welches es noch schwieriger gestaltet, eine überlebensfähige Gruppe zusammenzuschustern, die sich freiwillig den strengen selbst auferlegten Regeln unterziehen. Die Sachlage in Rheinhessen und in der Pfalz unterscheidet sich nicht durch mehr Einstimmigkeit. Hier haben zuerst nur eine kleine Anzahl von Weingütern Interesse an der Herstellung von “Ersten Gewächsen” gezeigt. Doch die Anzahl steigt! Erste Ansätze an der Basis wurden umgesetzt: Die Lagen wurden neu festgelegt. Fragwürdig ist lediglich der festgelegte Mindestpreis, den ein Erzeuger für seine “Ersten Gewächse” vom Endverbraucher abknüpfen muß. Gesetzliche Hürden schieben jedoch den Riegel vor weitergehenden Entwicklungen. Weitgehend herrscht Uneinigkeit darüber, wie diese überwunden werden sollen.

An der Mosel, wo eine Klassifikation der Weinberge den meisten Sinn machen würde, gibt es ein derzeit akutes Problem. Während einige Winzer, zum Beispiel das Weingut Dr. Loosen, es begrüßen würde, daß ein Gesetz seine feinsten Lagen erfaßt, wehren sich andere Kollegen, wie zum Egon Müller vehement in dieser Debatte. Allein einen Konsens dafür zu finden, ob alle “Grand Cru” ausschließlich aus Riesling hergestellt werden sollen, gestaltet sich schon als eine größeres Problem. Ganz zu schweigen, wie das Geschmacksprofil aussehen soll. Solange jedoch zahlreiche einflußreiche Winzer öffentlich keine Meinung zu diesem Thema vertreten, scheint keine Bewegung in die Diskussion zu kommen.

Einstimmigkeit herrscht jedoch in der These, daß der Grundstein für einen großen Wein bereits im Weinberg gelegt wird. Weiterhin hängt der Erfolg von dem Jahrgang und dem Talent des Kellermeisters ab. Niemand behauptet, daß gute Weine ausschließlich auf Spitzenlagen entstehen, doch die Klassifikation hat den glanzvollen Ruf der Weine aus Burgund und Elsaß nicht geschädigt. Im Gegenteil! Hier hat jeder in der einzelnen Region von der jeweiligen Klassifikation Nutzen gezogen. Der Durchschnittswinzer in Deutschland, der über keine Spitzenlagen verfügt, muß noch Verständnis dafür entwickeln, daß eine ähnliche Einteilung zu seinem Vorteil sein könnte.

Obwohl verschiedene Gruppen ein Klassifikationsschema erarbeiten, ist eines gewiß: Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ein neuer Status offiziellen Charakter erhält. Der Gast an der Bar sollte, und daher auch Sie bei Ihren Kaufstrategien, mehr auf den Ruf des Weingutes achten als auf den der Weinbergslage, Rebsorte oder Prädikatsstufe. Deswegen schaue ich in der Barkarte zuerst auf die Namen der Weingüter, denn ein Wein wird niemals besser sein, als die Fähigkeit des Winzers, ihn zu erzeugen. Finde ich da nichts Gescheites, trinke ich lieber ein frisch gezapftes Pils!

Gespeichert unter joel\texte\Bar vi 1999